Du bist was du siehst

Wann hast du das letzte Mal deine Augen trainiert? Wahrscheinlich noch gar nicht. Solltest du jetzt zum erlauchten Kreis der Menschen zählen, die ihr Geld mit der Ausübung ihrer Sportart verdienen ist das schon beinahe eine fatale Antwort hinsichtlich ungenutzter Potentiale.

Aber auch für den Hobbysportler oder Amateur ist das Auge einfach elementar wichtig hinsichtlich mehrerer Leistungsmerkmale. Nicht nur, dass das visuelle System in der Hierarchie der Bewegungssteuerung den ersten Rang einnimmt (Schmid-Fetzer & Lienhard, 2018), sondern eben insbesondere deshalb, weil es eben auch dafür verantwortlich ist, wie wir essentielle Informationen unserer Umgebung wahrnehmen. Wenn wir diese Informationen nur fehlerhaft wahrnehmen, kann es im „worst case“ dazu führen, dass dein Gehirn, um dich zu schützen einfach einen Gang zurück schaltet obwohl du es gar nicht merkst. Du willst quasi Vollgas aber dein System bremst. Scheiße gelaufen.

Warum du kein Top-Athlet bist?

Darüber hinaus besteht wohl kaum ein Zweifel daran, dass „Visual Skills“ eine herausragende Funktion bei allen Sportarten (Ausgenommen Blindensportarten) einnehmen und sowohl das Fernsehen, das Nahsehen, das periphere Sehen, Blicksprünge und Objektverfolgungen als wichtige visuelle Fähigkeiten anzusehen sind, um die Sportarten erfolgreich auszuführen. Man denke einfach mal an alle Ballsportarten, wo sich sowohl Ball, Mitspieler und Gegenspieler in einem dynamischen Konstrukt bewegen und nahezu ständig neue Spielsituationen entstehen. Final ist es dann auch noch die Aufgabe, einen Ball in einem Ziel präzise unterzubringen. Hast du das schonmal mit verbundenen Augen versucht?  Schließlich wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass professionelle Athleten sich von nicht-professionellen Athleten unter anderem auch durch bessere Augenleistungen unterscheiden. (Christenson & Winkelstein, 1988; Lenoir et al., 2000; Omar et.al, 2017)

Der Game-Changer – Reflexive Stabilität

Du kannst 10 Minuten den Unterarm Stütz halten? Glückwunsch – du scheinst gute Bauchmuskeln zu haben. Aber arbeiten sie auch, wenn ein Handballer gerade in der Luft steht, mit dem Arm ausholt und ein Gegenspieler sich seitlich an seinem Trikot festklammert? Hoffentlich!!! Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist es laut Lederman (2010) eben nicht die sog. „Core Stability“ die durch diverse Core-Übungen trainiert und meist mit dem Zusatz „Bauch festmachen“ oder ähnlichen Kommandos gecoacht wird, welche für die reflexive Stabilisierung zuständig ist. Sie schafft, wenn überhaupt, die Voraussetzung, um kraftvoll zu stabilisieren. Dies kann jedoch nur dann erfolgen, wenn diese Kraft abgerufen werden kann – man spricht hier von Ansteuerungsprozessen, die entweder willkürlich oder unwillkürlich stattfinden.  Auch hierbei trägt die willkürliche „intrinsic“ Rumpfkraft nur einen geringen Prozentsatz bei der Stabilisierung des Rumpfes bei (Moorhouse & Granata, 2007). Denn dies impliziert eine willkürliche Anspannung der jeweiligen Muskulatur, was jedoch in Spielsportarten wohl schwer zu erreichen wäre.

Jetzt kommt die reflexive Stabilität ins Spiel. Die reflexive Stabilität wird in erster Linie über das Gleichgewichtssystem/vestibuläres System gesteuert. Die Informationen daraus werden schließlich im Kleinhirn verarbeitet. Dies erfolgt über die bereits sogenannte Gleichgewichtsreflexe. Ein Training der reflexiven Stabilität über das visuelle System wird somit auch immer einen Einfluss auf das vestibuläre System haben und umgekehrt. Betrachtet man sich die Entwicklung der Haltung aus evolutionärer Sichtweise, so sieht man, dass ein Baby, welches zunächst auf dem Bauch durch die Gegend robbt, wohl zunächst den Nacken und die Extensoren des oberen Rückens betätigt, um mit seiner Umwelt in Kontakt zu geraten und sich zu orientieren. Schließlich folgen Drehbewegungen um die Körperachse, welche in erster Linie durch die Rumpfmuskulatur initiiert werden. Diese Bewegungen sind zunächst allesamt willkürlicher Natur, da die Bewegungen größtenteils isoliert stattfinden und kaum eine unbewusste Haltungskontrolle stattfinden muss. Dieses „Training“ ist sozusagen die Grundlage für die im Folgenden beschriebene reflexive/reaktive Stabilisierung im Körper. Hodges & Richardson (1997) fanden heraus, dass ähnlich der Reihenfolge der Evolution, zuerst eine neuronale Aktivierung der Rumpfmuskulatur erfolgt bevor eine Bewegung über die unteren Extremitäten in Gang gesetzt wird und athletische Manöver initiiert werden. Das ZNS kreiert sozusagen ein stabiles Fundament, auf welches weitere Bewegungen aufbauen können. Wenn jedoch das ZNS aufgrund einer Störung, möglicherweise im visuellen System, eine reflexive Stabilisierung erst mit Verzögerung verschaltet, trägt dies u.a. dazu bei, dass sich das Verletzungsrisiko sowohl für Verletzungen am Knie, sowie im unteren Rücken erhöht

Wie trainierst du dein reflexive Stabilität?

Zunächst mal kann man relativ gut sagen wie du sie auf keinen Fall trainierst. Und zwar indem du den ganzen Tag in einen kleinen Bildschirm ca. 30 Zentimeter vor deinem Auge blickst und nichts davon mitkriegst was um dich herum passiert.  Ansonsten gibt es viele Möglichkeiten des speziellen Augentrainings, die u.a. im Life Kinetic (bitte an unseren Life Kinetic Coach und Experten Simon Schmoll wenden) oder beim Neuroathletiktraining (Buch von Lars Lienhard) gezeigt werden. Grundsätzlich kann man aber zunächst einmal sagen: „Halt deine Augen offen, halt deinen Hals gerade und lass den Blick auch mal in die Ferne schweifen“ – weg von deinem Smartphone hinaus in die Natur. „Das periphere Sichtfeld ist der Rahmen, in dem wir uns bewegen und orientieren“ (Fetzer & Lienhard, S.110, 2018). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine eingeschränkte Wahrnehmung des peripheren Sehvermögens immer auch Einschränkungen hinsichtlich der Stabilität und der Bewegungspräzision nach sich zieht. Die Hypothese von Lienhard lautet hierbei, dass Defizite im peripheren Sehen dazu führen, dass die Welt uns nicht sicher erscheint und das Gehirn daher diverse Schutzfunktionen wie z.B. eine geringere Bewegungsamplitude in gewissen Gelenken verschaltet. Und schon stecken wir wieder im Dilemma: Du willst Vollgas aber dein Gehirn sagt STOP. Warum? Weil du nichts siehst.

 

Einen Tipp haben wir dir jetzt schon an die Hand gegeben. Du willst mehr?  Keine Sorge, bald kommt ein zweiter Teil zum Thema „Reflexiver Stabilität“ mit jeder Menge Übungen für dich! 

Stay tuned.

Spread the love

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert